Buchtipp: Andreas H. Segerer und Eva Rosenkranz: Das große Insektensterben (München, oekom verlag, 2018)

Die Nachricht ist erschreckend: Über 75 % der Insekten sind zwischen 1989 und 2017 ausgestorben. Das ist der Zeitraum, in dem Amateur-Insektenforscher*innen von der Entomologischen Gesellschaft Krefeld eine umfassende systematische Feldforschung an vielen Standorten in Deutschland durchgeführt haben. Noch erschreckender ist die Vorstellung, dass dieser Artenschwund nicht auf diesem Niveau verharren, sondern mit hoher Geschwindigkeit weiter voranschreiten wird. Dass diese Nachricht im Jahr 2017 nicht mehr Unbehagen auslöste, liegt vermutlich an der abstrakten, wenn auch hohen Zahl. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass es schwerfällt, empathisch zu sein mit Tieren, die uns so wenig ähnlich sind, die oft genug als störend empfunden und nicht selten nur als Leichen an Windschutzscheiben, Fliegenfängern und im Kuchenbüffet wahrgenommen werden.

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Visuelle Darstellung der planetaren Grenzen nach Will Steffen u. a., 2015

Rechtzeitig zum bayerischen Volksbegehren „Artenvielfalt“ ist ein wichtiges Buch erschienen, dessen Lektüre zu Unbehagen führt, weil es uns die Konsequenzen dieses Artensterbens konkret und eindringlich darstellt. Die Monografie mit dem Titel „Das große Insektensterben. Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen“ gibt umfassende Informationen zur Zentralität der Artenvielfalt für unser Ökosystem und die vielfältigen Hintergründe des Artenschwundes. Verfasst wurde es von zwei Autor*innen, die einander in ihrer Expertise wunderbar ergänzen. Der promovierte Biologe, Schmetterlingskundler der Zoologischen Staatssammlung München und Präsident der Münchner Entomologischen Gesellschaft, Andreas H. Segerer, gewährt einen Einblick sowohl in die Insektenkunde, als auch in die „Ökosystemdienstleistungen“ der Insekten, den Status quo der Landwirtschaftspraxis und -politik und den Natur- und Umweltschutz. Eva Rosenkranz, Literaturwissenschaftlerin und engagierte Naturschützerin mit eigenem Garten, ergänzt seine Ausführungen mit praxisnahen Hinweisen zum Insektenschutz im Garten und im Alltag.

Ursachen und Folgen des Insektensterben

Eingeleitet werden die Kapitel von Segerer durch biografische Notizen, vor allem Erinnerungen an seine Kindheit in einer vielfältigeren Natur. Viele Pflanzen und Tiere, die er als Kind und Jugendlicher noch erlebt, beobachtet und gesammelt hat, sind bereits verschwunden. Was wir heute als blühende Wiese wahrnehmen, ist nur ein matter Abglanz der ehemaligen ökologischen Vielfalt. Mit diesen Vergleichen demonstriert er auch die „Shifting Baselines“, das Verschieben der Orientierungspunkte. Monotone Grünflächen sind uns zur Normalität geworden, weshalb der Artenverlust weniger drastisch wahrgenommen wird als er tatsächlich ist. Gegen die Normalisierung von ausgeräumten und zugebauten Landschaften argumentiert Segerer folglich erkenntnisreich an. Auch wenn uns Wespen und Mücken nicht abgehen, sind sie dennoch unverzichtbar für das Ökosystem. Denn Insekten nehmen eine Schlüsselrolle in ihm ein: Unter anderem bestäuben sie Pflanzen, dienen anderen Tieren (einschließlich Menschen) als Nahrungsquelle, zersetzen Tierkadaver und abgestorbene Pflanzen, produzieren Naturstoffe wie Honig und dezimieren Beikräuter. Ihr Fehlen im Ökosystem hat weitreichende Effekte wie den Verlust vieler (Nutz-)Pflanzen, das Aussterben von insektenfressenden Tieren und die Ausbreitung von Bakterien und Schimmelpilzen. Obwohl das auf den ersten Blick überschaubar erscheint, steht nicht weniger als das Funktionieren des Ökosystems auf dem Spiel. Andreas Segerer ist bei der Beschreibung der potenziellen Folgen des Artenrückgangs weit entfernt von Spekulation, Schwarzweißmalerei oder Panikmache. Stattdessen verweist er auf unterschiedliche wissenschaftliche Szenarien und die Komplexität von Biosystemen, die ein Vorhersagen der tatsächlichen Folgen des Artensterbens erschwert. Dass das „sechste große Massensterben“ in der Erdgeschichte aber nicht folgenlos bleibt, betont er dennoch mit Nachdruck. Denn der Verlust der genetischen Vielfalt gehört neben der Überdüngung zu den planetaren Belastungsgrenzen, die bisher am weitesten überschritten sind.

Die Landwirtschaft hat’s gegeben, die Landwirtschaft hat’s genommen

Auf der Suche nach den Tätern geht der Insektenforscher ebenso differenziert vor: Flurbereinigung, Flächenfraß, Monokulturen (mit Energiepflanzen), Pestizid- und Herbizideinsatz sowie Überdüngung haben durchschlagenden „Erfolg“. Die Vielfalt sowohl von Wild- als auch Nutzpflanzen und –tieren, die durch den Landbau erst entstehen konnte, wird nun durch die intensive, exportorientierte Landwirtschaft dezimiert. Das Ausrotten geschieht legal und wird zudem von der Agrarpolitik mit Subventionen belohnt. Doch auch beim staatlichen Naturschutz sieht der Insektenforscher Nachholbedarf. Anstatt mit Artenschutzprogrammen einzelne Arten zu schützen, sollte der Fokus auf dem Ökosystemschutz liegen. Zudem fordert der Wissenschaftler mehr Förderung der Wissensproduktion und -vermittlung, denn im Umweltwissen sieht er die Voraussetzung für Umweltschutz.

„Be the change you want to see“

Eva Rosenkranz nimmt diesen dicht gesponnenen Faden auf und zeigt, wie Insektenschutz im Alltag funktioniert. Neben politischem Engagement und kritischem Konsum sieht sie im Garten das Potenzial, um Lebensräume für Insekten zu bewahren und zu schaffen. Auch wenn es sich nur um kleine Bausteinchen handelt, die unsere Privat- und Gemeinschaftsgärten im Vergleich zu den agrarisch genutzten und mit Infrastruktur überbauten Flächen ausmachen, können sie einen kleinen Beitrag leisten. Daneben hilft ein Umdenken. Denn Begriffe wie „Umwelt“ und „Grünfläche“ verleiten zu allzu großer Abstraktion und Distanz. Stattdessen sollten wir uns als Teil der Natur begreifen und „Grünflächen“ als Wiesen voller Leben. Rosenkranz gibt wertvoll Tipps zur insektenfreundlichen Bepflanzung von Gärten und zu deren naturnahen Gestaltung. Diese kleinen Maßnahmen betrachtet sie als Teil eines nachhaltigen Lebensstils, zu dem auch politisches Handeln gehört. Der Wandel beginnt bei den Einzelnen, hört bei ihnen aber nicht auf. Mit dem Motto „Be the change you want to see“ ermutigt sie dazu, die vom Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber geforderte „Weltbürgerbewegung“ zu formieren. Sowohl Eva Rosenkranz als auch Andreas Segerer halten eine Agrarwende für unumgänglich, um die von der industriellen Landwirtschaft verursachten Schäden zu minimieren.

„Das große Insektensterben“ überzeugt durch anschauliche Beispiele und eine gelungene Auswahl gut aufbereiteter Informationen. Das Buch ist reichhaltig illustriert und durch zahlreiche Schaubilder und farblich hervorgehobene Exkurse bereichert, in denen Details aufbereitet und verschiedene Einblicke gewährt werden. Hinter dem schlichten Paperback-Format verbirgt sich ein aufwendig gestaltetes Buch, das aufklärt, aufrüttelt, aber auch Mut macht.

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