Exkursion zum Obergrashof – Einblick in die Kulturpflanzenentwicklung
Hannelore Schnell und Konrad Bucher vom Bereich Stadtnatur des Ackermannbogen e.V. haben im Rahmen des Verbundprojekts „BioDivHubs – Biodiversität ins Quartier“ einen zweiten Teil des Grundlagenvortrags „Samen für die Zukunft“ organisiert: Direkt am Ort des Geschehens am Obergrashof bei Dachau.
Der „biologisch-dynamische Hoforganismus“ im Dachauer Moos nördlich von München ist leicht mit dem ÖPNV zu erreichen. Auf 165 ha wachsen hier viele Gemüsearten für den Menschen, Gründüngung, sowie Futterpflanzen für die Mutterkuhherde.
Die Saatgutarbeit geschieht unter dem Dach des gemeinnützigen Vereins Kulturpflanzenentwicklung Obergrashof e.V..
Ein Hofladen bietet Gemüse, Fleisch und andere Bioprodukte an, inklusive netter Fachberatung. Wie in den Vollkorner-Läden in München, die der Obergrashof beliefert, sind hier alle samenfesten Gewächse eigens gekennzeichnet.
Unter der Linde
Die Exkursion begann mit einer Einführung in das Thema samenfeste Biosorten am Platz unter der Linde, ein wunderbar schattig-kühler Ort an diesem heißen Tag. Hannelore Schnell spitzte im Schnelldurchlauf die Problematik, die sie in ihrem Vortrag im Januar 2024 (Präsentation Teil 1 und Teil 2) detailliert herausgearbeitet hatte, zu: Jahrtausende lang wurde Saatgut von Landwirten angebaut und wieder ausgesät, frei ausgetauscht und geteilt. Eine besondere Eigenschaft des Saatguts, nämlich die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren, verhinderte lange Zeit die Kommerzialisierung. Die bäuerliche Kulturpflanzen-Entwicklung hat so durch gezielte Selektion ca. 7000 Ernährungspflanzen hervorgebracht, die das Potenzial der Anpassung an die unterschiedlichsten Standortbedingungen genetisch in sich tragen und auch die menschlichen Bedürfnisse und Vorlieben widerspiegeln.
Diese immense genetische Vielfalt ist das wertvollste Kulturgut der Menschheit.
Und – die einzige Lebensversicherung gegen die Herausforderungen im Zuge des Klimawandels. Die genetischen Merkmale für eine bessere Anpassung an Hitze und Trockenheit liegen in den alten Sorten, die auch in einer wechselvollen Klimageschichte überlebt haben.
Seit etwa 100 Jahren hat sich die an den Profitzwang des kapitalistischen Wirtschaftssystems angepasste, globale Agrarindustrie herausgebildet, die nur noch 30 Ernährungspflanzen, davon 60% Mais, Weizen und Reis, kultiviert, erforscht und auch gentechnisch weiterentwickelt. Dadurch wird die Biodiversität auf den globalen Äckern und auf unseren Tellern extrem einschränkt. Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) verschwanden im vergangenen Jahrhundert 75 Prozent der weltweiten Nutzpflanzen.
Für die Landwirte gibt es in diesem System immer weniger Möglichkeiten, Saatgut auszutauschen und zu verteilen. Das Hochleistungs-Hybrid-Saatgut, das Landwirte überall auf dem Globus kaufen und anbauen können, ist auf Einheitlichkeit, hohe Leistungsfähigkeit, Robustheit und hohen Ertrag gezüchtet. Die wirtschaftliche Logik verlangt einheitlich große und gut aussehende „gerade“ Gewächse, die alle zum gleichen Zeitpunkt reif werden, hohen und stabilen Ertrag bringen und mit einem möglichst breiten Spektrum an Standorten zurechtkommen; bei mit den älteren gentechnischen Methoden veränderten Saatgut ist auch noch die Verträglichkeit gegenüber dem mitverkauften Pestizid eingebaut.
Durch diese Wirtschaftsweise verlieren wir nicht nur viele Pflanzenarten, auch die genetische Diversität innerhalb einer Sorte und auch innerhalb der einzelnen Pflanze nehmen rapide ab. Durch den industriellen Anbau von Hybridsaatgut wird auch das Bodenleben dezimiert – der Humus schwindet, das Mikrobiom des Bodens und auch das des Menschens verarmt. Ein einfältiger Speiseplan mit genetisch weniger ausdifferenzierten Pflanzen macht Menschen anfälliger für Krankheiten.
Einförmigkeit auf den Feldern ist eine globale Gefahr
„Wer die Saat hat, hat das Sagen“ (Anja Banzhaf): Kontrolle über das Saatgut bedeutet die Kontrolle über die Nahrungsmittelversorgung. Die Frage, wer neue Pflanzensorten produziert, ist eine der wichtigsten, globalen Zukunftfragen überhaupt. Heute kontrollieren gerade einmal vier Konzerne – Bayer, Corteva, ChemChina und Limagrain – mehr als 50 Prozent des weltweiten Saatgutmarktes. Profitgetriebene Monopole dominieren also die globale Nahrungsmittelversorgung und unsere Gesundheits-Chancen.
Ähnlich sieht es beim Gemüsesaatgut in der EU aus: Hier haben die fünf größten Unternehmen 63,2 % Marktanteil. Auch ökologisches Hybridsaatgut stammt zum größten Teil von diesen Big Playern (BASF SE, Bayer, Limagrain, Rijk Zwaan Zaadteelt und Syngenta), was aber meist durch intransparente Firmenkonstrukte- und Namen beim Blick auf das Samentütchen nicht ersichtlich wird. (Quelle: Mordor Intellicence)
Mit den neuen Gentechnik-Methoden (NGT) droht eine weitere Gefahr: Wenn die EU-Kommission die Deregulierung des Gentechnikrechts wie geplant umsetzt, müssen die mit neuen gentechnischen Verfahren hergestellten Pflanzen nicht mehr extra zugelassen und gekennzeichnet werden. Sie könnten so unkontrollierbar zu den Verbraucher*innen und auch in den Ökolandbau gelangen.
Zum Stand der Debatte über die neue Saatgutverordnung in der EU gibt es einen guten Beitrag von Arche Noah.
On-farm Züchtung
Julian Jacobs ist Mitgründer der Gärtnerei Obergrashof und befasst sich seit über 30 Jahren mit Saatgutvermehrung und Züchtung. Aus seiner Arbeit gingen bereits mehrere Sorten verschiedener Kulturarten hervor (u.a. Blumenkohl, Chiorée, Kohlrabi). Urban Ewald stieß nach Lehre und Studium im Jahr 2018 dazu.
Julian erklärt uns: „Im Jahr 2021 haben wir Saatgutarbeit in einen gemeinnützigen Verein ausgegliedert. Nicht zuletzt deshalb, weil der gemeinschaftliche und gemeinnützige Mantel unserem Verständnis von Pflanzenzüchtung am besten entspricht – denn Sorten sind Kulturgut! Die Ergebnisse unserer Arbeit – bekömmliche, nachbaufähige, vielfältige Sorten mit hoher Lebensmittelqualität – verstehen wir nicht als unser Privateigentum, sondern als Beitrag zu einem gemeinsamen Zukunfts-Erbe. Auf Sortenschutz und Patente verzichten wir – die von uns entwickelten Sorten stehen Hobby- und Erwerbsgärtner*innen zum An- und Nachbau frei zur Verfügung.“
Der Verein Kulturpflanzenentwicklung Obergrashof ist auch Züchtungsstandort des Kultursaat e.V., der die Aktivitäten von 25 biologisch-dynamischen Gemüsezüchter*innen in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden koordiniert. So werden auch Ringversuche an vielen Standorten möglich, welche wissenschaftlich begleitet werden. Auch mit bildschaffenden Methoden wird die biodynamische Pflanzenzüchtung untersucht: Seit 2001arbeitet die Agrarwissenschaftlerin Gaby Mergardt intensiv mit der Kupferchloridkristallisation am Fachgebiet Ökologische Lebensmittelqualität der Universität Kassel. Die Kristallisationsbilder weisen auf eine stärkere Symetrie und Lebendigkeit von samenfesten Biosorten gegenüber F1-Hybriden hin. Die Bilder werden bei der Entscheidung für neue Zuchtlinien mit einbezogen.
Die beiden Experten Julian Jakobs (rechts) und Urban Ewald von der Kulturpflanzenentwicklung Obergrashof e.V. erklären uns die Grundlagen der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und der „On-farm Züchtung“
Mit der Gärtnerei Obergrashof wird eng zusammengearbeitet. Durch diese Verknüpfung besteht ein stetiger Austausch mit den Anforderungen des praktischen Anbaus. So wird die Saatgutarbeit in den Hoforganismus eingebettet: Die Tierhaltung, die Fruchtfolge, die Klima- und Bodeneigenschaften, die Präparatearbeit, nicht zuletzt das Miteinander der Hofgemeinschaft – der Hof als lebendiges System kann sich in die Entwicklung der Kulturpflanzen einprägen. Die Sorten gehören zum Hof und entwickeln sich in Wechselwirkung mit ihm. Je lebendiger und vielgestaltiger der Hof, desto lebendiger und vielgestaltiger das Gemüse.
Neben Ertrag und Widerstandsfähigkeit kommt es den Züchtern vor allem auf eine hohe Ernährungsqualität an. Guter Geschmack und innere Lebendigkeit der Sorten sind für die Ernährung des Menschen auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene ausschlaggebend.
Allerdings ist es auch diesem engagiert und mit Herzblut arbeitenden Demeter-Gemüsehof nicht möglich, allein mit samenfesten Gemüsesorten wirtschaftlich zu überleben. Deswegen werden auch hier einige Hybride angebaut. Julian und Urban bedauern das: „Ökologisch erzeugte F1-Hybride sind zwar keine per se ungesunden oder „schlechten“ Pflanzen, aber sie tragen nicht die genetische Diversität, Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit in sich, wie die samenfesten Biosorten, die eine lange Entwicklungsgeschichte im Erbgut tragen.“
Im Glashaus
Im Gewächshaus ist es noch heißer als draußen, aber den beiden Züchtern macht das nichts aus. Sie erklären liebevoll die Zuchtlinien und ihre Eigenheiten. Man merkt auch als Laie, dass da enormes Wissen, Erfahrung, Geduld und Feinsinnigkeit dahinter stehen muss, um sich ein Leben lang erfolgreich der Kunst der Pflanzenzüchtung zu widmen. Ein Balance-Akt bleibt es, trotz aller Hingabe, weil die wirtschaftlichen Bedingungen immer schlechter werden.
Auf der Website der Kulturpflanzenentwicklung Obergrashof wird jeder Pflanze ein eigenes Kapitel gewidmet:
Der frohwüchsige Edward…
Zum Beispiel heißt es beim Rettich Edward, eine Züchtung von Julian: „Zuchtziele waren Frohwüchsigkeit, Einheitlichkeit, Glattschaligkeit, geringe Grünköpfigkeit, fehlende Neigung zum Pelzigwerden, Schossfestigkeit und eine mittlere Länge bei einer Tendenz zur zylindrischen Form. Am schwierigsten war das Zuchtziel Einheitlichkeit zu erreichen…“
und ein Kohlrabi mit bewegter Vergangenheit…
Rasko, ein weißer, zarter und leicht süßer Kohlrabi hat eine lange biodynamische Geschichte. Er wurde vor über 35 Jahren von einem Pionier der biodynamischen Züchtung in der Schweiz entwickelt, und geriet dann in Vergessenheit, bis Julian Jakobs Restbestände des Saatguts entdeckte und die Erhaltungszüchtung begann. Faszinierend ist die lange biodynamische Vergangenheit dieser Sorte, das in den Genen gespeicherte „Gedächtnis“, das ihre besondere Vitalität und Qualität ausmacht.
Was können wir tun, um dies zu bewahren?
Julian erklärt: „Die Verbraucher sind an das einheitliche Bild der Hybridgewächse gewöhnt und denken oft, alles andere sei schlechte Ware. Hier besteht ein riesiger Aufklärungsbedarf: Wir müssen alle mithelfen, damit regionale, selbstbestimmte Züchtung weiterhin stattfinden kann. Wir haben es alle in der Hand, uns nicht vollständig von multinationalen Konzernen abhängig zu machen. Wenn wir wollen, dass ökologisch wirtschaftende, bäuerliche Betriebe mit ihrer Lebensmittelerzeugung und Züchtung weiterhin zur Weiterentwicklung und zum Erhalt unseres frei verfügbaren Kultursaatguts und damit auch zur Ernährungssouveränität beitragen, müssen wir sie unterstützen!“
Wir diskutieren darüber und tragen folgende Punkte zusammen:
Indem wir:
- samenfeste Gemüse und Saatgut nachfragen
- beim Einkauf kleine und krumme Exemplare akzeptieren. Sie werden leider meistens aussortiert – wir können froh sein, wenn wir solche Gemüse überhaupt noch vorfinden. Meistens sind sie hervorragend und intensiv im Geschmack, weil weniger Wasser eingelagert ist.
- in Hofläden, Biokooperativen und auf Märkten einkaufen
- möglichst ökologisch, regional, saisonal einkaufen
- auch bei Bioware unterscheiden zwischen im Plastikmeer von Almeria unter schlimmen sozialen Bedingungen produzierten EU-Bio und regionalen Verbandsbio, wie z.B. Naturland, Ökoland und Demeter.
- gute Beziehungen zu den regionalen Biolandwirt*innen und Solawis pflegen – Abnehmergemeinschaften bilden, Marktstände in den Quartieren initiieren.
- als urbane Gärtner*innen einen Teil unseres Bedarfs in biodiverser Mischkultur selbst anbauen und darauf achten, nur samenfestes Biosaatgut bei den kleinen, mit Herzblut arbeitenden, ökologischen Pflanzenzüchtern zu kaufen und auch selbst weiter zu vermehren.
Text und Fotos: Ruth Mahla